Eine Grundregel am Berg lautet: nicht allein gehen. Wenn etwas passiert, können Begleiter Hilfe organisieren. Wandern ist schön, aber in der Gruppe noch schöner und eben auch sicherer. So habe ich das vor langer Zeit mal gelernt bei einem "Grundkurs Bergsteigen" des Deutschen Alpenvereins (DAV).
In Zeiten des Social Distancing soll das plötzlich nicht mehr gelten. Größere Zusammenrottungen sind zu vermeiden. Gruppentouren mit acht bis zehn Teilnehmern aus verschiedenen Haushalten fallen bei meiner DAV-Sektion monatelang aus.
Auch ein befreundeter Fotograf gibt mir einen Korb: Sorry, als Herztransplantierter gehöre er zur Hochrisikogruppe. Leider bin ich auch nicht Mitglied im Sauerländischen Gebirgsverein (SGV), der "Solowanderungen plus 1" anbietet nach dem Prinzip: Einer geht und nimmt einen zweiten mit. Um sich zu verabreden, nutzen die Mitglieder die vereinsinterne "SGVgehtApp".
In die Berge will ich trotzdem.
Ich habe Zeit, der Wetterbericht ist gut. Nur: Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal allein losmarschiert bin. Es muss Jahre her sein. Mein erster Gedanke: Ich wähle eine Modetour auf einen der Münchner Hausberge. Da bin ich zwar solo unterwegs, aber oben eben doch nicht allein, weil viele dieselbe Idee haben.
Nun rät der Alpenverein aber exakt von diesen Modebergen ab, um überfüllte Parkplätze und Gedränge am Gipfel zu vermeiden. So allmählich reift in mir eine Idee: Wenn schon solo, dann auch richtig einsam, selbst auf die Gefahr hin, dass das etwas mehr Risiken birgt. Ich informiere daher einen guten Freund über mein Vorhaben.
Schließlich kenne ich den Film "127 Hours", die wahre Geschichte des Aron Ralston, der sich nach einem Sturz seinen eingeklemmten Arm selbst amputieren muss, weil er es eben verpasst hat, Bescheid zu sagen, und niemand ihn findet. Eine krasse Situation, die mir aber nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist.
"Nicht gleich den schwierigsten Gipfel auswählen"
Meine Tour wähle ich aus dem Buch "Wilde Wege - Bayerische Alpen" von Mark Zahel. Der Autor beschreibt darin "einsame Jagdsteige und zünftige Felstouren bis zum II. Grad abseits bekannter Routen". Er richtet sich "an Erfahrene mit Faible für das individuelle Bergerlebnis".
Erste Zweifel kommen auf. Darf ich mich angesprochen fühlen? Wann habe ich am Berg zum letzten Mal allein den Weg gesucht und eigenverantwortliche Entscheidungen getroffen? Von Berufs wegen bin ich ja oft mit Profi-Bergführern unterwegs. So kann ich mich besser auf das Mitschreiben und Fotografieren konzentrieren. Aber es ist eben auch bequem. Die heikle Frage, ob man bei Gewitterwolken umkehrt oder weitergeht, beantwortet am Ende des Tages ein anderer.
Zahels Buch bietet ausgefallene, zuweilen verwegene Vorschläge: Touren ohne Markierung in anspruchsvollem Terrain. "Man muss dem mental gewachsen sein", warnt er im Telefongespräch. "Umso mehr, wenn man allein unterwegs ist. Ich empfehle das nur Bergsteigern, die sich ihrer Sache hundertprozentig sicher sind. Alle anderen sollten mindestens zu zweit unterwegs sein." Er rät zudem, "sich behutsam an die Wildheit heranzutasten und nicht gleich den schwierigsten Gipfel auszuwählen".
Ich entscheide mich trotzdem für das Kreuzspitzl in den Ammergauer Alpen. Auf der Schwierigkeitsskala für Bergtouren und Wanderungen des Schweizer Alpen-Clubs SAC von T1 bis T6 verpasst Zahel meiner Tour ein T5-6, also fast die höchste Stufe: "schwieriges Alpinwandern". Soll heißen: "Meist weglos. Kletterstellen bis II. Häufig sehr exponiert. Heikles Schrofengelände. Oft nicht markiert." Technisch habe ich das drauf, da bin ich mir sicher. Aber die halb verfallenen Wege seien schwierig zu finden, sagt Zahel. Ich lade deshalb die Daten der Tour auf meine GPS-Uhr.
Die Orientierung fällt so leichter, die anfängliche Unsicherheit verschwindet. Ich tauche ein in den dunklen, tiefen Wald der unteren Etagen. Ich fühle mich wohl und geborgen in ihm. Aber ich weiß auch, dass für manche Menschen dort das Böse lauert. Dass sie eine Art Urangst vor dem unheimlichen Wald haben. Oder ist diese Angst nur anerzogen?
So oder so: Wer sie überwindet, wird stärker, selbstbewusster. Da sind sich Psychologen einig. Was mir noch gefällt: Ich muss auf niemand Rücksicht nehmen. Kann mein ureigenes Tempo gehen. Die zu warme Jacke ausziehen und in den Rucksack stopfen, ohne jemand um eine kurze Pause bitten zu müssen. Stehen bleiben, wo ich will und solange ich will.
Als Solo-Geher lernt man leichter Menschen kennen
Intensiv fühlt sich das an. Da sind keine Ablenkungen. Ich bin allein mit mir und meinen Gedanken. Ich bewege meine Füße bewusst, Schritt für Schritt. Sauge die Eindrücke auf, genieße die Stille der Natur mit allen Sinnen, spüre meinen dampfenden und zuverlässig arbeitenden Körper.
Robert Kampczyk schreibt in seinem Blog "Vitamin Berge": "Allein auf Tour zu gehen, hat für mich einen besonderen Reiz. Der oft unterschätzte Stressfaktor 'Gruppenzwang' entfällt. Die wahre Ruhe findest du nur allein." Sein Wiener Kollege Martin Moser meint: "Ich brauche diese Zeit in der Natur für mich selbst, um die Gedankenstränge im Kopf zu ordnen, alte Gedanken zu entrümpeln und Platz für neue zu schaffen."
Der Bergführer und Dozent Jens Badura wirft noch andere Fragen auf: "Muss ich als Wanderfreund wirklich immer in die Alpen fahren? Ist mein Bedürfnis, die wilde Natur zu erfahren, mit Blick auf deren dauerhaften Erhalt verantwortbar?" Er warnt davor, dass der Run auf die "wilden Pfade" oder "Geheimtipps der Einheimischen", die sich entsprechenden Foren und Führern finden, zu einem wachsenden Druck auf das sensible Ökosystem Alpen führt.
Ein "Servus" reißt mich aus meinen Tagträumen. Da ist tatsächlich noch ein anderer Mensch unterwegs auf dem schmalen Grat zwischen Friederspitz und Schellschlicht. Die junge Frau bleibt stehen, sucht das Gespräch. "Zum Gipfel ist es keine halbe Stunde mehr", versichert sie mir. Und ja, sie sei häufig allein unterwegs. Sie habe keine Lust auf WhatsApp-Gruppen, wo dann stundenlang hin und her diskutiert werde, auf welchen Berg es am Wochenende gehen soll.
Wieder etwas verstanden: Als Solo-Geher lernt man leichter Menschen kennen. Und einsam kann man schließlich auch in einer großen Gruppe sein.
Kurze Zeit später stehe ich am höchsten Punkt, allein. Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, die besondere Aussicht mit jemand zu teilen. Zur Not auch virtuell, zur Not auch via soziale Medien.
Ich lasse das Handy dann doch stecken. Digitales Entgiften ist diesmal Teil der Übung.
July 13, 2020 at 10:53AM
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Alpentour: Warum es gut tut, allein in die Berge zu ziehen - DER SPIEGEL
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gut
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