
Berlin. Der Job des Vorstandsvorsitzende der größten Universitätsklinik Deutschlands ist auch in normalen Zeiten alles andere als einfach. In Zeiten der Pandemie und weltpolitischer Verwicklungen gilt das erst recht. Aber der gebürtige Ostfriese Heyo Kroemer verliert auch als Charité-Chef nicht so leicht die Ruhe.
Herr Professor Kroemer, sie sind jetzt ein Jahr Vorstandschef der Charité. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Ob ich meine Arbeit ordentlich gemacht habe, müssen andere beurteilen. Aus meiner persönlichen Sicht, war es ein extrem interessantes Jahr, dessen Verlauf ja in Teilen so nicht vorhersehbar war. Generell habe ich bisher an der Charité keinen langweiligen Tag erlebt. Wenn ich morgens mit meinem Fahrrad zur Arbeit fahre, weiß ich ziemlich sicher, dass etwas passieren wird, ich weiß nur nicht, was.
Manche sagen, die Charité sei unregierbar wegen der komplizierten Struktur und der Größe. Wie sehen Sie das?
Wer in eine solche Position kommt und die Vorstellung hat, die Charité regieren zu können, wäre hier meines Erachtens vollkommen fehl am Platz. Die Charité ist eine sehr komplexe, sehr große Universitätsmedizin mit vielfältigen Aufgaben und zum Teil widerstreitenden Interessen, die der Vorstand in eine Übereinstimmung bringen muss, dass das Ganze funktioniert. Moderne Führung solcher Einrichtungen ist nach meiner Vorstellung ein kontinuierlicher Interessenausgleich. Gleichzeitig braucht ein Vorstand sehr konkrete Vorstellungen, wie sich die Charité entwickeln soll. Solche Vorstellungen entwickeln wir derzeit in unserem Strategieprozess unter dem großen Thema „Charité 2030: Wir denken Gesundheit neu“.
Es gab neulich einen Brief des Dekans Professor Pries, der die Forscher angehalten hat, sie sollten doch keine Einzelmeinungen zu Corona mehr als Charité-Meinungen rausgeben. Das haben einige als Maulkorb verstanden. Widerspricht das nicht dem, was Sie gerade gesagt haben?
Selbstverständlich ist jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler in der Meinungsäußerung bei Fachfragen frei. Das ist im Grundgesetz so festgelegt. Der Brief von Professor Pries ist im Kontext der aktuellen, außergewöhnlichen Situation zu verstehen. Die Charité hat in den letzten Monaten der Pandemie übergeordnete Aufgaben für das Land Berlin Aufgaben übernommen. Wir haben eine Teststrategie für die Stadt entwickelt und als einzige deutsche Universitätsmedizin Flughafentests durchgeführt. Wir haben dabei eng und vertrauensvoll mit der Berliner Politik zusammengearbeitet. Wenn dann unerwartet in einem hochpolitisierten Raum Meinungen kommuniziert werden, die allen vorherigen Verabredungen widersprechen, steht dies grundsätzlich jedem frei, sollte aber doch vorher sorgfältig überlegt werden. Die Charité hat in der besonderen Pandemie-Situation auch eine besondere öffentliche Verantwortung übernommen und nur darum ging es unserem Dekan.
Wie sehen Sie denn die Kommunikation in der Corona-Pandemie. Manche Leute glauben ja einfach nicht, dass dieses Virus existiert und Gefahren bedeutet. Hat man da zu viele widerstreitende Botschaften ausgesendet?
Wir haben in den letzten Monaten erlebt, dass Wissenschaft und Politik plötzlich einen Bereich intensiver Überschneidung bekommen haben, den es vorher so nicht gab. Es wurde ja sogar behauptet, Deutschland werde von Virologen regiert, was ich immer für abwegig hielt. Beide Seiten, Politik und Wissenschaft, sind nun fest überzeugt, dass dieses Interaktionsfeld exakt nach ihren Regeln funktionieren. Grundlage von Wissenschaft ist Erkenntnisentwicklung, die dazu führen kann, dass sich Meinungen in sehr kurzer Zeit ändert. Wenn man in der Politik zu wichtigen Themen häufig seine Meinung ändert, hat man sehr schnell ein großes Problem. Für die Zukunft wäre es aus meiner Sicht wichtig, diesen gemeinsamen Kommunikationsraum besser zu strukturieren.
Aktuell gibt es eine lautstarke Gruppe, die die Pandemie grundsätzlich leugnet und die Maßnahmen dagegen als überzogen und undemokratisch bezeichnt...
Der allergrößte Teil der Menschen in der Bundesrepublik pflegt eine vernünftige Diskussionskultur. In kritischen Diskussionen frage ich immer, ob es irgendein Land gäbe, in welchem sie diese Pandemie lieber erlebt hätten als in Deutschland. Ich habe vor zwei Wochen die Demonstration gegen die Coronapolitik in Berlin mitverfolgt. Es ist besorgniserregend, dass wir offensichtlich einen Teil der Bevölkerung kommunikativ verlieren. Ich halte es für wenig zielführend, diese Menschen pauschal zu verunglimpfen. Vielmehr ist die Akademia aufgerufen, durch neue, innovative Wege der Wissenschaftskommunikation zumindest einen Teil dieser Menschen für einen vernünftigen Dialog zurückzugewinnen. Auch die Charité sieht sich hier in der Pflicht.
Wie sehen Sie denn aktuell den Stand der Corona-Pandemie in Deutschland?
Wir sind von der medizinischen Versorgung her in Berlin bisher ganz gut durchgekommen und ich hoffe sehr, dass das so bleibt. Im Moment steigen die Infektionszahlen wieder und wir sehen mit Sorge in den anderen europäischen Ländern einen deutlichen Anstieg der Krankenhausaufnahmen. Sehr drängend werden meines Erachtens die Fragen, welche sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen für unsere Gesellschaft folgen und wie man diese auffängt.
Sie in der Charité hatten sich ja stark vorbereitet auf große Wellen von Corona-Erkrankten. Wie viele schwer erkrankte Covid-19-Patienten betreuen sie denn derzeit?
Wir haben aktuell zehn Patienten in unseren Intensivstationen. Wir haben als Universitätsklinik im Rahmen der Arbeitsteilung mit den anderen Berliner Krankenhäusern uns auf die schwer kranken Patienten konzentriert. Diese zehn Patienten sind aber alle schon seit der ersten Infektionswelle bei uns. Wir sehen bisher keine neuen Intensivfälle.
Wie ist das zu erklären?
Die gängigste Erklärung ist, dass die Neuinfizierten im Durchschnitt jünger sind als in der ersten Welle. Ein weiteres Argument könnte sein, dass es inzwischen viel mehr Erfahrungen gibt, wie Corona-Patienten zu behandeln sind. Die älteren Menschen sind offenbar durch konsequentes Maskentragen und Kontaktvermeidung besser geschützt als im Frühjahr. Aber voll inhaltlich verstanden ist das nicht.
Aber wenn niemand mehr schwer krank wird, ist das nicht ein Argument dafür, die Auflagen zu lockern. Viele Branchen sind doch sonst am Ende?
Diese Abwägung ist wirklich schwer zu treffen. Wenn wir uns hinsichtlich der Infektionszahlen andere Länder wie etwa die USA anschauen, wie viele Menschen dort in den Krankenhäusern liegen und sterben, dann kann man zu der Überzeugung kommen, dass der Mittelweg, den wir in Deutschland gehen, nicht unvernünftig ist.
Muss man denn als Charité noch die vielen Betten für Corona vorhalten?
Das machen wir ja längst nicht mehr in dem Ausmaß wie im Frühjahr. Nur unsere Campus-Klinik, wo wir in kurzer Zeit Büros in Intensivstationen umgewandelt haben, halten wir frei. Das halte ich für vertretbar. Die Belegung der gesamten Charité ist fast wieder da, wo wir vor der Pandemie waren.
Kommen Sie deswegen so einigermaßen wirtschaftlich durch das Jahr? Viele hätten ja mit einem größeren Defizit gerechnet als den 70 Millionen Euro, die sie jetzt prognostizieren.
In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 hatte die Charité eine sehr hohe Belegung ihrer Betten. Ab März hatten wir dann auf staatliche Anordnung hin mehrere hundert Betten freigehalten. Dieser Leerstand ist vom Bund nur teilweise finanziell kompensiert worden. Uns fehlt also ein Teil der Einnahmen für einen Teil des Jahres. Sehr positiv finde ich, dass der Berliner Senat angekündigt hat, diese Ausfälle zu ersetzen. Ich gehe also nicht davon aus, dass wir auf dem Defizit sitzen bleiben. Sollte ein zweiter starker Anstieg kommen, hoffe ich, dass wir die normalen Aktivitäten der Charité nicht noch einmal so stark herunterfahren müssen.
Sie haben mitten im Lockdown 150 Millionen Euro von der Bundesregierung bekommen, um ein Netzwerk der deutschen Universitätskliniken aufzubauen. Wie läuft dieses Projekt?
Das Projekt Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) wird derzeit von der Charité koordiniert und hat zum Ziel, auf eine zweite Welle oder neue Pandemieereignisse mit Hilfe der deutschen Unikliniken besser reagieren zu können. Zum ersten Mal sorgt der Staat dafür, dass sich seine größten Kliniken systematisch koordinieren. Bisher funktioniert das Projekt erfreulich gut, alle Universitätsklinika sind dem Netzwerk beigetreten. Zum Beispiel haben sich alle Radiologien der Universitätskliniken zusammengeschlossen, um die Frage zu beantworten, ob die sehr unterschiedlich schweren Verläufe einer COVID-19 Infektion vorhergesagt werden können.
Sie sagen, die Behandlung von COVID-19 habe sich verbessert. Aber es gibt jetzt nicht endlich einen Durchbruch, also eine Methode oder ein Medikament, das sie an der Charité entwickelt haben?
Dieses Krankheitsbild existiert bei uns erst seit 2020, insoweit ist der Zeitraum für die Entwicklung vollkommen neuer Therapien zu kurz. Es gibt aber eine intensive, weltweite Forschungsbemühung, an der auch die Charité stark beteiligt ist. Ein großer Schritt wird dabei die Entwicklung eines Impfstoffes sein. Wir werden wahrscheinlich in den nächsten Jahren auch antivirale Medikamente bekommen, die die Infektion stoppen können. Außerdem wird die Entwicklung innovativer Testverfahren weitergehen.
Sie meinen die Corona-Tests?
Genau. Die Charité hat sowohl ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch im Auftrag des Landes Berlin Rückkehrer aus Risikogebieten an den Flughäfen mittels des bisher zeit- und arbeitsaufwändigen PCR-Verfahrens getestet. In allen Fällen waren nur sehr wenige Proben positiv. Wir brauchen schnellere, aber immer noch sichere Methoden, um die bisher ganz wenigen positiven Fälle aus einer großen Gruppe herausziehen zu können. Solche Tests, etwa über Atemgasanalysen, werden derzeit entwickelt und validiert. Sie würden beitragen, auch größere Veranstaltungen im Bereich von Kultur oder Sport wieder zu ermöglichen.
Ihr Labor Berlin, das ja hälftig der Charité und Vivantes gehört, muss doch jede Menge Geld verdienen mit den vielen Corona-Tests.
Wir könnten derzeit technisch bis zu 5000 Tests am Tag machen. Das funktioniert praktisch aber nicht, weil es für die industriell hergestellten Tests Lieferengpässe gibt, was in den letzten Wochen bundesweit zu erheblichen Einschränkungen geführt hat. Dass die Durchführung der extrem vielen Covid-19 Tests nicht zum Nachteil der Diagnostik-Industrie und der Labore und damit auch für Labor Berlin ist, darf man sicher unterstellen.
Mit einer anderen Tochterfirma haben sie hingegen Ärger. Bei ihrer Service-Tochter CFM läuft immer noch der Warnstreik. Die Mitarbeiter wollen in den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes und damit genauso viel verdienen wie anderen Beschäftigte der Charité. Das würde aber ihr Defizit deutlich vergrößern. Wie kommen sie aus der Nummer raus?
Die Bundesrepublik steht ja mit hoher Wahrscheinlichkeit vor wirtschaftlich schwierigen Zeiten und der Staat als unser Eigentümer prognostiziert extreme Steuerausfälle. In einer solchen Situation hat der soziale Frieden im eigenen Unternehmen einen besonders hohen Wert. Insoweit haben wir den Warnstreik mit Sorge gesehen und begrüßen die aktuelle Verhandlungsbereitschaft. Derzeit ist der Warnstreik unterbrochen, kann aber jederzeit wiederaufgenommen werden. Grundsätzlich gibt es eine Reihe von Aspekten zu bedenken. Die Charité konnte als eines der wenigen deutschen Uniklinika das Jahr 2019 mit einem positiven Ergebnis abschließen, das allerdings mit etwa 100.000 Euro extrem gering war.
Wie viel würde es sie den kosten, wenn die Forderungen umgesetzt würden?
Die von der Gewerkschaft gewünschte Einführung des TVÖD in der CFM kostet einen zweistelligen Millionenbetrag, den die Charité keinesfalls aus der Krankenversorgung erwirtschaften kann. Dieser Differenzbetrag muss somit vom Eigentümer Land zur Verfügung gestellt werden, andernfalls schreibt die Charité auf absehbare Zeit rote Zahlen. Noch ein zweiter Punkt ist sorgfältig zu bedenken. Die Beschäftigten der CFM erbringen auf einem extrem hohen Niveau Dienstleistungen, die nicht alle zum Kerngeschäft eines Uniklinkums gehören. Die Einführung des TVÖD würde diese Leistungen so verteuern, dass sie bei anderen, auch tarifgebundenen Anbietern deutlich günstiger zu erwerben sein werden. Nach den für uns strikt geltenden Regeln von Sparsamkeit im Umgang mit öffentlichen Mitteln wären wir gegebenenfalls gezwungen, diese Leistungen dann bei anderen einkaufen. Dazu wird uns nach kurzer Zeit der Landesrechnungshof anhalten. Mir leuchtet das Motto gleicher Lohn für gleiche Arbeit grundsätzlich ein. Es muss aber dafür ein langfristig tragfähiges Konstrukt entwickelt werden.
Ein ganz anderes Thema: die Charité hat ja seit Jahren Ärger mit dem Datenschutz, es geht um den Umgang mit Patientendaten und die Zugriffe darauf. Ihr Vorgänger sagte immer, die Wissenschaft brauche Daten. Sind diese Probleme behoben?
Wir gehen diese Probleme systematisch an. Die Fragen von Datenschutz und Digitalisierung haben in der Charité hohe Priorität. Wir sind dabei im engen Austausch mit der Berliner Datenschutzbehörde. Der letzte Report der Behörde ist in der Tonalität schon etwas moderater als die vorigen. Diese Aufgaben in kürzester Zeit komplett lösen zu können, ist allerdings nicht zu erwarten. Wir müssen für mehrere Hundert Prozesse im Haus Datenschutzfolgeabschätzungen machen. Wir haben uns in einem konstruktiven Dialog mit den Berliner Datenschützern geeinigt, wie eine solche Datenfolgeabschätzung inhaltlich und formal aussehen muss. Gleiches gilt für die Forschung, die selbstverständlich auch dem Datenschutz unterliegt. Eine grundsätzliche Herausforderung besteht darin, dass die Charité noch nicht komplett digitalisiert ist. Schnittstellen zwischen analogen und digitalen Systemen sind datenschutztechnisch schwer beherrschbar. Mit einem voll digitalen Uni-Klinikum, das Teil unserer oben genannten Strategieentwicklung ist, wird auch der Datenschutz viel einfacher umzusetzen sein.
Ihrem prominentesten Patienten, dem russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, geht es ja wohl inzwischen besser. Wie bewerten Sie denn die Diskussion darüber, dass er bei Ihnen vergiftet worden sein soll, wie das ja einige in Russland behaupten?
Wir haben im Umgang mit international bekannten Patientinnen und Patienten eine klar definierte Vorgehensweise. Unser wichtigstes Ziel ist es, den Patienten medizinisch zu helfen. Zugleich haben aus unserer Sicht auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein Recht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung. Deshalb veröffentlichen wir regelmäßig Pressestatements, wenn neue Entwicklungen eingetreten sind. Darüber hinaus beteiligen wir uns nicht an Spekulationen.
Zur Person:
Schon bevor Heyo Kroemer die Leitung der Charité übernommen hat, lag hinter dem 1960 im ostfriesischen Leer geborenen Pharmakologen ein stationsreiches Wissenschaftlerleben. Nach einer Professur in Bonn war Kroemer von 2000 bis 2012 Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald und ab 2011 Wissenschaftlicher Vorstand der Greifswalder Universitätsmedizin. Mit dem Ruf an die Universitätsmedizin Göttingen 2012 wurde er dort hauptamtlicher Dekan und Sprecher des Vorstands. Seit September 2019 ist er Vorstandsvorsitzender der Charité. Zudem wurde er 2018 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Kroemer ist verheiratet und hat drei Kinder.
September 13, 2020 at 11:26AM
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Charité-Chef: „Wir sind medizinisch gut durchgekommen“ - Berliner Morgenpost
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gut
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